Montag, 9. Mai 2016

Selbstvermarktung, Selbstverliebtheit und die Scham


Dies ist kein Selfie, sondern ein richtiges Foto
Während ich in den letzten Wochen sehr konzentriert an meinen Memoiren schrieb, drang immer wieder ein Klicken an mein Ohr. Erst nach geraumer Zeit stellte ich fest, was es war. Mein Bruder hatte sich Caras Handy geschnappt und machte Selfies. Da ich nun schon mal im Schreibfluss gestört war, fragte ich ihn, was er damit bezwecke, sich immer und immer wieder zu fotografieren, denn dieses selbstverliebte Getue ging mir ziemlich auf den Geist. Die Antwort kam prompt. Das habe etwas mit Selbstvermarktung zu tun, daran könne ich mich schon mal gewöhnen, wenn ich meine Memoiren verkaufen wolle. „Und was willst du verkaufen, du schreibst doch nicht?“, fragte ich ihn. „Das kommt noch, ich habe eine neue Ernährungslehre im Kopf,“  erwiderte er. Mein Bruder hat ganz was anderes im Kopf, dachte ich bei mir, sagte aber: „Ernährungslehren haben wir genug. Seit Jahren höre ich nichts anderes. Erst lebte man vegetarisch, aß aber dennoch Fisch. Als ob Fische keine Tiere wären! Doch damit nicht genug. Derzeit muss man vegan leben, um glücklich zu sein, sagen die einen. Die anderen beißen jedoch beherzt in einen Burger und lösen damit den Hype auf die Curry-Wurst ab. Und die fleischige Zutat für den Burger heißt nicht etwa Hackfleisch-Klops, sondern Patty. Englisch klingt ja auch viel cooler.“  

Mein Bruder widersprach mir mit dem lakonischen Satz, er wolle zurück zu den ganz einfachen Dingen. Dann trällerte er wie so häufig in letzter Zeit: „Linda, Linda, my Linda, Linda, Linda I love you.“ Mein erster Gedanke war: Oha, er lässt sich ablenken von seiner komischen Ernährungstheorie. Das kann nur bedeuten, es hat ihn erwischt, er hat sich verliebt. Dabei  fragte ich mich, wer denn wohl diese Linda sei. 
 
Doch ich hätte ahnen müssen, dass ich auf der falschen Fährte war und Linda letztlich was mit Essen zu tun hat. Denn nun belehrte mich Heinrich voller Begeisterung und mit strahlenden Augen: „Kartoffeln in allen Variationen sind unser Glück. Dir ist das vielleicht nicht aufgefallen, als wir neulich mit Cara in der Heide waren. Überall längs der Straßen die Schilder mit dem Hinweis „Kartoffeln“. Da sieht man, die Landwirte haben es längst begriffen, was die kleine Knolle alles an guten Stoffen enthält. Und auch der Alte Fritz…“ Da hat es mir gereicht und ich fuhr ihm dazwischen: „Was heißt hier alter Fritz Fritz ist mein Freund und nicht alt und wenn einer sagen darf dass er alt ist dann bin ich das weil ICH sein Freund bin aber ich sage das nicht und selbst wenn  er in seinem Schrebergarten ein Beet mit Kartoffeln anbaut so ist er eigentlich ein Angler er geht angeln hörst du er geht ANGELN  und bringt mir immer diesen leckeren Lachs mit und du hältst jetzt mal schön die Klappe mit deinen albernen Theorien du tickst ja nicht mehr richtig!“ Ohne Punkt und Komma hatte ich das in meiner Rage heruntergespult. Mein Bruder blickte mich aus weit aufgerissenen Augen an und war verstummt.
Heinrich ist verschreckt
 
Als ich ihn so sah, wurde mir bewusst, dass ich ihn gerade runtergeputzt hatte. Warum war ich nur so ausgerastet? Er ist doch mein Bruder und ich liebe ihn. Und er macht doch nichts Schlimmes, wenn er sich für Essen interessiert. Er lässt mich schließlich auch in Ruhe schreiben.

Und nun schäme ich mich gleich doppelt, vor ihm und auch vor meinen zukünftigen Lesern, denn dieser Zwischenfall wird kein rühmliches Kapitel in meinen Memoiren werden.